Der dreisprachige Europäer: eine realistische Hoffnung?
Vortrag von Claude Piron, 3. März 2001, anläßlich eines vom
Goethe-Institut von Bordeaux organisierten Kolloquiums
In ganz Europa erheben sich zahlreiche Stimmen, die eine allgemeine
Dreisprachigkeit befürworten. Es ist erforderlich, so sagt man uns, daß der
Sprachunterricht darauf ausgerichtet wird, aus jedem jungen Europäer einen
dreisprachigen Büger zu machen. Aber was soll dreisprachig bedeuten? Geht es
darum, zwei Sprachen zusätzlich zur jeweiligen Muttersprache gründlich zu
beherrschen?
Der Linguist Claude Hagège definiert dieses Niveau
folgendermaßen: "Für mich bedeutet das perfekte Beherrschen einer Sprache,
daß man in der Lage ist, Wortspiele zu verstehen, die Muttersprachler bei sehr
schnellem Sprechen machen, und die Sprache zu sprechen, ohne als Ausländer
erkannt zu werden." und er folgert: "Die Anzahl wirklich zweisprachiger
Menschen (...) ist ziemlich beschränkt".
In der Tat erfordert dieses
Niveau von Zweisprachigkeit außergewöhnliche Umstände wie verschiedensprachige
Elternteile oder eine Schulausbildung in einer anderen als der in der Familie
gesprochenen Sprache. Sprachferien im Ausland genügen nicht. Ich persönlich
habe fünf Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt, ich habe viel auf Englisch
gearbeitet, ich habe sogar an der San Francisco State University unterrichtet,
aber ich werde niemals für anglophon gehalten werden, und wenn ich eine
amerikanische Musikkomödie anschaue, bin ich weit davon entfernt, alle
Feinheiten zu verstehen.
Ein komplexes Gewirr von Programmen
Eine Sprache, das ist ein komplexes Gewirr von Programmen, im Sinne der
Datenverarbeitung, deren Ablauf ständig behindert wird durch hunderttausende von
sekundären und tertiären Programmen, die mit den primären in Wechselwirkung
stehen. Wir sind uns dessen nicht bewußt, weil der Erwerb unserer
Muttersprache unbewußt geschieht, in einem Alter, in dem es uns umöglich ist,
das Ausmaß der Arbeit zu ahnen, das unsere Nervenzellen leisten müssen. Um sich
korrekt auszudrücken, muß man unaufhörlich natürliche neurophysiologische Pfade
blockieren.
Wenn man beispielsweise mit einem Adjektiv den Begriff
"etwas, das man nicht lösen kann" ("qu'on ne peut pas
résoudre") widergeben will, führt einen das spontane Spiel des Gehirns zu
dem Wort irrésolvable. Aber man muß diesen Pfad blockieren und eine
Umleitung einrichten, die zu insoluble führt.
Ein anderes Beispiel:
Sie haben heute morgen Mme. Cristina del Moral gehört, wie sie mehrmals die
Anzahl der parleur (Sprecher) dieser oder jener Sprache
nannte. Ihr Französisch war bemerkenswert, aber genau in diesem Punkt gewann die
natürliche Neigung die Oberhand über ihre Kenntnisse unserer Sprache:
parleur ist die Form, die auf direktem Weg von den Mechanismen des
Denkens erreicht werden, um das auszudrücken, was in korrekter Sprache mit dem
Wort locuteur bezeichnet wird. Und nachdem ein Ausländer, der
französisch lernt, en hiver, j'y pense und biologiste gelernt
hat, muß er en printemps, je lui pense und psychologiste
vermeiden. Der Gedankenablauf kann nicht den natürlichen Regungen folgen, die
parallele Konzepte durch parallele Formen ausdrücken wollen.
Unsere natürliche Tendenz besteht darin, alle linguistischen Merkmale zu
verallgemeinern. Wenn alle Kinder plus bon sagen, bevor sie
meilleur sagen, dann deshalb, weil sie die Struktur von plus
beau, plus fort, plus petit etc. verallgemeinert
haben. Eine Sprache zu lernen bedeutet daher, sich die Reflexe seiner
Muttersprache abzugewöhnen, in sein Denken eine Reihe abweichender Reflexe zu
integrieren, danach einen sehr hohen Prozentsatz dieser Reflexe zu blockieren,
um eine korrekte Form zu erreichen, die im Gegensatz zur spontanen Tendenz der
Verallgemeinerung steht.
Engländer, die sich mit Französisch beschäftigen,
müssen lernen, dass sie nicht wie in ihrer Sprache sagen können je
chante / vous chante. Sie müssen einen Reflex aufbauen, der sie
vous chantez sagen läßt. Aber wenn dann dieser Reflex einmal besteht,
muß man einen Reflex einführen, der den ersteren für bestimmte Verben blockiert.
Man muß sozusagen ein "Durchfahrt verboten"-Schild aufstellen vor Formen wie
vous faisez, vous disez, und eine Umleitung einrichten, die zu
vous faites, vous dites führt. Nur - wenn diese Umleitung
eingerichet ist, muß man bei dem Wort prédire mit der Arbeit noch
einmal von vorn anfangen. Es wurde auf einen Pfad geleitet, der zu vous
prédites führt. Falsch, man sagt vous prédisez.
Sie sehen: eine
europäische Sprache zu lernen, bedeutet, mehrere Schichten von Reflexen
übereinander zu legen.
Ich spreche von Reflex, weil es nicht genügt, etwas
verstanden und behalten zu haben. Wenn Sie überlegen müssen, alle Zettel und
Aktenordner in Ihrer Erinnerung durchblättern müssen, um die korrekte Form zu
finden, können Sie nicht fließend sprechen. Das ist mein Dilemma, wenn ich
russisch sprechen muß. Obwohl ich unzählige Stunden Übung im Russischen hinter
mir habe, habe ich die Wahl, entweder richtig, aber langsam zu sprechen, in
einem abgehackten, ruckartigen, mühsamen Rhythmus, mit einer enormen
Nervenanspannung, oder fließend zu sprechen, aber alle Welt zum Lachen zu
bringen, weil meine Fehler so ulkig sein könnten.
Mindestens 10.000 Stunden
Es sind mindestens 10.000 Stunden Studium und Praxis erforderlich, um die
hunderttausende von erforderlichen Reflexen zu fixieren, deren Anzahl
unbeschreiblich ist. Nun, der Unterricht in der ersten Fremdsprache umfaßt
insgesamt zwischen 800 und 1.200 Unterrichtsstunden außerhalb des Landes. Es
ist daher nicht erstaunlich, dass beim Abitur nur einer von 100 Schülern in der
Lage ist, sich in der ersten gelernten Fremdsprache korrekt auszudrücken.
Achthundert bis 1.200 Stunden, das ist ein Zehntel von dem, was erforderlich
wäre. Wenn man will, dass die Schüler zwei Fremdsprachen beherrschen, muß man
die gegenwärtige Zahl der Unterrichtsstunden verzwanzigfachen.
Das ist der Weg, für den sich Luxemburg entschieden hat, wo in der
Grundschule 12 von 27 Wochenstunden zwei Fremdsprachen gewidmet sind: dem
Deutschen und dem Französischen, das sind ungefähr 3.000 Stunden während der
sechs Grundschuljahre. Da das Sprachstudium in den weiterführenden Schulen
fortgesetzt wird, hat Luxemburg tatsächlich eine dreisprachige Bevölkerung, aber
die Luxemburger sind in Mathematik, Naturwissenschaften und verschiedenen
anderen wichtigen Fächern schlechter als ihre gleichaltrigen Kameraden.
Außerdem, wenn die Jugend diese Sprachen beim Eintritt in das Arbeitsleben nicht
verliert, so liegt das an der außergewöhnlichen geografischen Lage des
Großherzogtums, wo die Kontakte mit französisch- und deutschsprechenden Personen
alltäglich sind.
In Ländern wir Spanien, Finnland oder Frankreich würde es
nicht lange dauern, bis das Vergessen eintritt, weil sich die erlernten Reflexe
nicht erhalten, wenn sie nicht regelmäßig verstärkt werden.
Sie bemerken
dies, wenn Sie eine Sprache mehrere Jahre nicht sprechen: dass die Wörter
fehlen, dass die Fehler, die Sie machen, dort auftreten, wo die konditionierte
Verbindung zwischen offensichtlichen Konzepten und einem hemmenden Reflex sowie
einer Umleitung fehlt.
Dreisprachigkeit oder verhüllte Förderung des Englischen?
Wenn man eine dreisprachige Bevölkerung haben will, welches Niveau wird man
anstreben? Ein Niveau der meisterlichen Beherrschung von drei Sprachen ist
wegen des einfachen Schulunterrichts unmöglich und langandauernde
Auslandsaufenthalte zum Sprachenlernen für die gesamte Bevölkerung werden nicht
finanzierbar sein. Selbst wenn gewisse Fächer in der Fremdsprache unterrichtet
werden, wird dadurch das wünschenswerte Niveau nicht erreicht. In der Schweiz
gibt es Gymnasien, an denen vier Fächer während drei Jahren in einer
Fremdsprache unterrichtet werden. Das Niveau der Schüler ist in der fraglichen
Sprache sicherlich viel höher als das derjenigen, die traditionellen Unterricht
haben, aber es ist trotzdem noch weniger als Meisterschaft.
Wenn man bei den
europäischen Sprachen bleibt, wäre die einzige realistische Lösung eine
Dreisprachigkeit, die sich zusammensetzt aus einer guten Kenntnis der
Muttersprache, einer unvollständigen, aber relativ benutzbaren Kenntnis einer
zweiten Sprache und einer Einführung in eine dritte Sprache, welche zwar nicht
den wirklichen Gebrauch der Sprache ermöglicht, aber einen gewissen Eindruck
davon zu bekommen, was sich kulturell gesehen rechtfertigen läßt, denn je mehr
Möglichkeiten man entdeckt, die gleichen Gedanken unterschiedlich auszudrücken,
um so mehr erweitert sich der Verstand.
Unglücklicherweise beinhaltet dieses System große Nachteile. Es begünstigt
eine Ungleichheit bei Bevorzugung der englischsprechenden Länder. Tatsächlich
ist eine Kommunikation von einem Land zum anderen nicht möglich, außer wenn eine
der unterrichteten Sprachen für alle die gleiche ist. Wenn nicht, wie kann sich
dann ein portugiesisch-griechisch-dänisch Sprechender ernsthaft mit einem
finnisch-deutsch-französisch Sprechenden austauschen? Die Eltern werden daher
verlangen, dass die am gründlichsten zu lernende Sprache Englisch ist.
Was
die englischsprachigen Schüler betrifft, wären die meisten nur wenig motiviert,
zwei andere Sprachen zu lernen, weil sie ja wissen, dass sie, wo sie auch
hingingen, sich mit ihrer Muttersprache aus der Affäre ziehen könnten.
Nun
ist aber der Haupterfolgsfaktor beim Erlernen einer Sprache die
Motivation. Paradox: Man preist die Dreisprachigkeit, um die Verschiedenheit
zu wahren, um eine bessere gegenseitige Bekanntschaft aller Europäern zu
ermöglichen, aber tatsächlich führt man sie direkt zu einer Unterwerfung unter
die Anglophonie, mit der Konsequenz der Durchdringung mit einem Denkschema, das
nichts mit den geistigen und kulturellen Traditionen Kontinentaleuropas zu tun
hat.
Wir nähern uns also nicht einer allgemeinen Dreisprachigkeit, wo jeder mehr
oder weniger gleichberechtigt wäre, sondern einer mehr oder weniger effektiven
Zweisprachigkeit, mit Verstärkung der Ungleichheit zwischen den Völkern. Die
Völker sind gegenüber dem Englischen nicht punktgleich: Die Germanen sind im
Vorteil im Verhältnis zu den Romanen, die Romanen im Verhältnis zu den Slaven
und anderen Balten. Das Englische ist wesentlich eine germanische Sprache,
steht also den skandinavischen Sprachen, dem Deutschen und Niederländischen
nahe. Es hat vieles mit diesen Sprachen gemeinsam, nicht nur auf der Ebene des
Basisvokabulars und der Grammatik, sondern auf viel subtileren Ebenen. Es
gibt in den Sprachen dieser Familie einen gemeinsamen Geist, der den romanischen
und slavischen Sprachen fremd ist. Aber wenn romanisch-sprachige Menschen
benachteiligt werden gegenüber Germanen, so sind sie doch in einer viel
glücklicheren Position als die Osteuropäer.
Eine der Schwierigkeiten des Englischen ist sein immens großes Vokabular, das
fast den doppelten Umfang des Vokabulars einer anderen europäischen Sprache hat,
ein umfangreicher französischer und lateinischer Beitrag wurde zu dem
germanischen Bestand hinzugefügt, ohne ihn zu ersetzen. Man kann nicht
englisch, wenn man nicht gleichzeitig fraternal und brotherly,
liberty und freedom, vision und sight
kennt. Ein Westeuropäer kennt vorher einen der beiden Begriffe, aber nicht
ein Ungar oder Este. Die Übernahme des Englischen als internationales
Kommunikationsmittel errichtet eine Hierarchie unter den Völkern: sie ist
undemokratisch.
Eine wirklich realistische Lösung
Die einzige Chance, eine Verstärkung der Vorherrschaft des Englischen zu
vermeiden, setzt die Bewusstwerdung bei den Behörden und Medien
voraus. Unglücklicherweise stößt dieser Erkenntnisprozess auf einen enormen
Widerstand. Das Gebiet, mit dem ich Sie jetzt bekannt machen werde, ist ein
Gebiet, über das sehr verschwommene Vorstellungen bestehen, und auf dem die Zahl
der Personen, die die Unterlagen wirklich öffnen, sehr gering ist. Ich vertraue
auf ihren aufnahmebereiten Verstand und bitte Sie, mir ohne vorgefasste Meinung
zuzuhören. Alles, was ich sagen werde, gründet sich zum einen auf meine
Erfahrung, besonders meine Kindheit, und zum anderen auf ein Studium der Fakten,
Fakten der kulturellen, pädagogischen, linguistischen, phonetischen und
neuropsychologischen Ordnung. Wie es sich bei Fakten gehört, ist alles, was
ich sagen werde, vollständig verifizierbar, selbst wenn das unglaublich
erscheint.
Es gibt einen realistischen Trilinguismus, frei von den Ungerechtigkeiten,
von denen ich bis jetzt gesprochen habe: der Trilinguismus "Muttersprache -
Esperanto - andere Sprache"
Esperanto ist vollständig auf dem Recht aufgebaut, alle linguistischen
Merkmale zu verallgemeinern. Das heißt, vom neuropsychologischen Gesichtspunkt
aus, es erspart sämtliche sekundären und tertiären Reflexe, die in den anderen
Sprachen aufgebaut werden, um die eingerichteten Primärreflexe zu
unterdrücken. Der Schüler, der eine andere Sprache lernt, hat den Eindruck,
auf eine Strecke geschickt worden zu sein, die ein Sadist mit Steinen übersät
hat, einzig zu dem Zweck, ihn zum Stolpern zu bringen.
Nun, die Einrichtung
von Reflexen, die das Fallen über diese Steine verhindern, benötigt ungefähr 90%
der Zeit, die für den Erwerb einer Sprache erforderlich ist. Wenn, wie in
Esperanto, diese Steine nicht existieren, ist die Zeitersparnis beim Lernen
enorm. Ein Monat Esperanto verleiht ein Kommunikationsniveau vergleichbar
demjenigen, zu dem ein Jahr in einer anderen Sprache führt.
Anders gesagt,
nach sechs Monaten Esperanto, mit gleicher Wochenstundenzahl, hat ein Schüler
eine Kommunikationsfähigkeit entsprechend derjenigen, die er - in einer anderen
Sprache - am Ende der Sekundärstufe besitzt. Das bedeutet, dass es genügt,
Esperanto während eines Semesters zu unterrichten, entweder am Ende der
Grundschule oder zu Beginn der Sekundärstufe, um die erste Etappe zu
verwirklichen: die Zweisprachigkeit "Nationalsprache - internationale
Sprache". Die gesamte verbleibende Schulzeit steht dem Schüler also zur
Verfügung, um eine dritte Sprache zu erlernen, mit all den Stunden, die
gegenwärtig der zweiten gewidmet werden.
Beziehungs- und pädagogische Aspekte
Die Chancen, in dieser dritten Sprache ein gutes Niveau zu erreichen, sind
darüberhinaus realistischer, weil Esperanto beträchtliche Vorteile als
propädeutisches Fach besitzt, also als Vorbereitung auf das
Sprachenlernen. Ein Franzose, der Deutsch lernt, muß sich ein komplexes,
starres und willkürliches System abgewöhnen, und ein anderes komplexes, starres
und willkürliches System zur neuen Gewohnheit machen. Um von "je vous
remercie" zu "ich danke Ihnen" zu kommen, muß er Reflexe
modifizieren, die den Stellung des Personalpronomens betreffen ebenso wie
diejenigen für die Natur des direkten oder indirekten Objekts. Wenn ich das
Wort willkürlich benutzt habe, dann deswegen, weil diese Ersetzung von
Reflexen nichts zu tun hat mit den Anforderungen der Kommunikation. Wenn ich
sage je remercie à vous, was die wörtliche Übersetzung des deutschen
Ausdrucks ist, verstehen Sie mich problemlos. Die Kommunikation funktioniert,
soweit es den Inhalt betrifft. Was sich von einer normalen Kommunikation
unterscheidet ist, dass man mich für bizarr hält, wir sind nicht gleichrangig,
es ist also die Beziehungsebene, auf der es ein Problem gibt.
Es kann sein, daß diese Beziehungsebene unwichtig ist.
Selbst wenn der
Inhalt der Darlegung gut übermittelt wird, weil diejenigen, die zuhören,
mitspielen, kann es sehr peinlich sein, wenn unerwünschte Nebenbedeutungen
auftreten. Eine dänische Ministerin, Mme. Helle Degn, hatte kaum ihr Amt
angetreten, als sie den Vorsitz bei einer internationalen Zusammenkunft
übernehmen mußte. Sich auf englisch ausdrückend, wollte sie sagen:
"Entschuldigen Sie, ich kenne die Unterlagen nicht gut, ich habe mein Amt
gerade erst angetreten" und sie sagte: "I'm at the beginning of my
period", was bedeutet: "Ich habe gerade meine Tage
bekommen." Jeder hatte verstanden, aber ihr Ansehen hatte gelitten.
Wenn man eine Fremdsprache spricht, erscheint man oft weniger intelligent als
man ist. Wenn ich also zu Ihnen sage je remercie à vous, verstehen
Sie mich, aber ich werde nicht als derjenige erkannt, der ich wirklich bin, es
gibt eine Verfälschung zwischen uns. Einer der Vorteile von Esperanto ist,
dass es dank seiner großen lexikalischen und syntaktischen Freiheit diese Art
von Problemen vermeidet. In Esperanto kann man nach der französischen
Struktur "je vous remercie" mi vin dankas, nach der englischen
"je remercie vous" mi dankas vin und nach der deutschen
"je remercie à vous" mi dankas al vi sagen. Da alle drei
Formen gleich geläufig sind, erscheint niemand fremdartig.
Ein anderes Beispiel, diesmal in Bezug auf die lexikalischen Formen.
Auf
Französisch kann ich sagen vous chantez merveilleusement (Sie
singen wunderbar), aber ich habe nicht das Recht, die gleiche Struktur auf
die Begriffe Musik und schön anzuwenden: vous musiquez bellement ist
verständlich, aber falsch. Auf Esperanto können Sie genausogut wie vi
kantas mirinde auch vi muzikas bele oder vi bele muzikas
sagen. Anders ausgedrückt, ein Kind, das Esperanto lernt, lernt es, seine
Gedanken auf viel vielfältigere Weise auszudrücken als in irgendeiner anderen
Sprache, und das, ohne die pädagogisch ungünstige Erfahrung von Fehlern zu
machen. Es ergibt sich eine Erweiterung des Sprachgefühls und der
sprachlichen Kreativität ohne ein Gefühl des Misserfolgs. Das ist in höchstem
Maße angenehm und ermutigend. Ich kann aus eigener Erfahrung davon berichten.
Esperanto war meine erste Fremdsprache, es war Esperanto, das mich auf den
Geschmack an Sprachen gebracht hat.
Ein anderer psychologischer Vorteil von Esperanto ist, dass es nicht
erforderlich ist, eine andere Identität überzustreifen. Die englische
Aussprache zu lernen bedeutet, die Angelsachsen nachzuahmen. Viele
Jugendliche, die physisch über alle Voraussetzungen verfügen, es ordentlich
auszusprechen, schaffen es nicht wegen einer psychologischen Blockade. Um die
englische Aussprache nachzuahmen, muß man seine französischen Gewohnheiten bei
der Art, wie man die Zunge, die Lippen, das Gaumensegel etc. plaziert, ablegen.
Das wird oft als ein Verlust der Identität erlebt. In Esperanto hat jedermann
einen fremden Akzent, und die sehr großen Variationen in der Aussprache werden
als ganz normal betrachtet. Die Erfahrung beweist, dass dies im Gegensatz zu
dem, was mit dem Englischen geschieht, der Verständigung nicht schadet, und zwar
aus phonetischen Gründen, was aber hier auszuführen zu lange dauern
würde.
Anders gesagt, Esperanto vor einer anderen Sprache ist wie die
Tonleiter vor dem Konzert, wie Gymnastik vor dem Skifahren, es ist ein
ernstzunehmendes Hilfsmittel, ein Gelenk zwischen zwei starren und willkürlichen
Systemen. Die Erfahrung beweist, dass es ein effizientes Hilfsmittel
ist. Eine Klasse, die ein Jahr lang Esperanto, gefolgt von 5 Jahren Deutsch,
macht, erreicht das gleiche Niveau in Deutsch wie eine Klasse, die sechs Jahre
Deutsch macht. Sie hat nichts verloren.
Wenn unsere Behörden, unsere Vertreter im europäischen Parlament und in den
nationalen Parlamenten, die politischen Parteien, die universitäre, ökonomische
und kulturelle Elite wirklich wollten, dass die Europäer ihre sprachliche
Verschiedenheit bewahren, ihre Identität behalten und die unterschiedlichen
Identitäten tolerant aufnehmen, ihre kulturellen Horizonte erweitern und
miteinander über das kommunizieren, was ihr Land ausmacht, mit der gleichen
Leichtigkeit wie in ihrer Muttersprache, würden sie erkennen, daß die
Dreisprachigkeit "Muttersprache - Esperanto - andere Sprache" sich als einzige
realistische Lösung darstellt. Das ist die Schlußfolgerung, zu der man
gelangt, wenn man einmal von Nahem betrachtet, wie sich die Dinge in
Wirklichkeit abspielen.
Ich bestehe auf dieser Verpflichtung, die Wirklichkeit zu betrachten, weil
die Diskussionen über die Sprachen, wie sie in den Ministerien, in den
europäischen Instanzen und den Medien geführt werden, sich praktisch niemals auf
das Studium der Realität gründen. Sie verniedlichen die Bedeutung
sprachlicher Behinderung im täglichen Leben, sie verniedlichen ganz gewaltig die
Schwierigkeit der Sprachen, sie machen viel Getöse um das "wo und wie" und tun
so, als sei Esperanto eine Idee, ein Projekt und nicht eine leicht zu befolgende
sprachliche Realität.
Die Zauberformel, die ich vorschlage, ist also die einzig realistische sowohl
vom inhaltlichen als auch vom technischen Programm her, wie man sagen
kann. Leider fürchte ich, dass sie vom sozio-polito-psychologischen
Gesichtspunkt noch nicht realistisch erscheint. Einerseits sind die sozialen
Kräfte, die das Monopol des Englischen befördern, außerordentlich stark. Sie
müssen im Zusammenhang betrachtet werden mit der Macht, mit der sozialen
Situation, mit den ökonomischen Interessen, aber auch mit Faktoren, die von der
Mode und dem Snobismus beeinflusst werden.
Andererseits gibt es einen
hartnäckigen Widerstand dagegen, die Akte "Esperanto" zu öffnen. Das ist ein
Bereich, auf dem hochstehende Personen, aber oft auch die Journalisten und viele
Linguisten urteilen, ohne die Tatsachen zu studieren, als ob sie im Voraus alles
wüßten, was es zu wissen gibt, als ob sie sich eine Vorstellung von der Natur
und Funktionsweise von Esperanto machen könnten, ebenso wie von der Kultur, die
damit verbunden ist, ohne sich Informationsmaterial zu beschaffen und ohne zu
betrachten, wie es sich dort darstellt, wo es benutzt wird.
Trotzdem, der Einsatz ist enorm, sowohl was die Werte betrifft, die durch die
sprachliche Verschiedenheit repräsentiert werden, als auch für die Gleichheit
zwischen den Völkern, und also die Demokratie. Viele sind sich der Bedeutung
dieses Spieleinsatzes bewusst geworden. Aber die Zahl derjenigen, die die Mühe
auf sich nehmen, sich ernsthaft über die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten zu
informieren, indem sie studieren, wie die Dinge in der Praxis ablaufen, und die
Vergleiche anstellen, ohne die eine objektive Sichtweise der Wirklichkeit nicht
möglich ist, ist leider sehr klein.
Zum Glück gilt, was Lincoln sagte:
Man kann einen Teil der Wahrheit vor einem Teil der Bevölkerung für
einen Teil der Zeit verbergen, aber man kann nicht die ganze Wahrheit vor der
ganzen Bevölkerung für die ganze Zeit verbergen.
Eine kleine Bewußtseinsänderung könnte also auf unerwartete Weise eintreten,
und wenn die Bewußtseinsänderung einmal wirksam geworden ist, könnte alles sehr
schnell gehen. Wer weiß, ob der Europarat durch die Proklamation des Jahres
2001 zum "europäischen Jahr der Sprachen" nicht die Initiative übernommen hat,
die nötig wäre, um endlich die gewissenhafte Suche nach der Wahrheit anzustoßen,
und dadurch Lösungen abseits der geschlagenen Pfade?
____________ Quellen
1. Claude Hagège, "Une
langue disparaît tous les quinze jours", L'Express
- Dossier, 3/11/00, p.3
2. Claude Piron, Le
défi des langues - du gâchis au bon sens, Paris:
L'Harmattan, 2ème éd. 1998. Siehe auch "Linguistic Communication
- A Comparative Field Study"
3. Jyllands Posten, 14. Januar 1994; Sprog og erhverv, 1, 1994
4. Claude Piron, L'espéranto
- L'image et la réalité, Paris: Université
de Paris - 8, 1987, pp. 12-15. Siehe auch: Claude Piron, "Culture
et espéranto", SAT-Amikaro, n-o 393, März
1984
http://www.aliaflanko.de/deutsch/text/triling.html
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