Evolution ist ein Beweis von Leben
Einige Anmerkungen zur Entwicklung des Esperanto
Wer sich für die Entwicklung des Esperanto interessiert, kann
sich glücklich schätzen: Die Esperanto-Gemeinschaft hat zu jeder Zeit eine große
Zahl von Dokumenten hervorgebracht, so daß die Erforschung der
Weiterentwicklungen, die in mehr als einem Jahrhundert des Sprachgebrauchs
eingetreten sind, keine Schwierigkeiten bereitet. Eine Studie dieser
Dokumentation zeigt, daß im wesentlichen zwei Faktoren die von L.L. Zamenhof
vorgeschlagene Sprache modifiziert haben: auf der einen Seite das Substrat der
unterschiedlichen Benutzer und auf der anderen Seite Anpassungen, die spontan
eingeführt wurden, so dass die Sprache für die verschiedenen Mitglieder der
hochdiversifizierten Gemeinschaft, die sie für ihre interkulturellen Beziehungen
angenommen haben, verständlich bleibt. Obwohl diese Faktoren nicht durch bewußte
Entscheidungen bestimmt wurden, waren sie erstaunlich effektiv. Insofern bilden
sie eine interessante Illustration der unbewußten Mechanismen, die die Effizienz
sprachlicher Kommunikation sicherstellen.
- Semantische Entwicklung
Die Bedeutung einer gewissen Anzahl von Wurzeln hat sich
verschoben. Hier sind drei Beispiele:
- Bei Zamenhof (1) und auch noch in den Wörterbüchern von Waringhien (2), (3)
wird 'Ich singe gerne' im allgemeinen durch mi amas kanti ausgedrückt.
Das Verb ist das gleiche wie in 'Ich liebe dich' (mi amas vin).
Offensichtlich war ein großer Teil der Esperantogemeinschaft davon schockiert,
dass, wie im Russischen und Französischen, das gleiche Wort gebraucht wurde, um
eine einfache Vorliebe und das unter Umständen sehr tiefe Gefühl von Liebe
auszudrücken. Hierauf reagierte die Gemeinschaft unbewußt mit einer
Unterscheidung der beiden Begriffe. Heute deckt ami ausschließlich das
Bedeutungsfeld von 'lieben' ab, während der Begriff 'mögen, etwas gerne tun'
durch ŝati wiedergegeben wird, dessen Bedeutung ursprünglich näher bei
"etwas wertschätzen" angesiedelt war (4). Dieses Beispiel zeigt sowohl den
Einfluß als auch die leichte Beeinflußbarkeit des Substrats. Die Differenzierung
war zunächst auf einen Teil der Diaspora (5) beschränkt, aber dieser Teil war in
der Majorität, und eroberte schließlich sogar die Esperantosprecher mit
französischem und russischem linguistischen Hintergrund, die sich allmählich an
die Unterscheidung gewöhnten, obwohl sie in ihren Sprachen nicht existiert.
- Häufig tritt eine semantische Entwicklung wegen interkultureller Spannungen
ein. In den ersten Jahrzehnten des Esperantogebrauchs war das Wort für
'Vorname', 'Taufname', antaŭnomo (antaŭ 'vor', nomo
'Name'). Unter dem Einfluß chinesischer, koreanischer und japanischer Sprecher,
die in ihren jeweiligen Traditionen den Familiennamen voranstellen, wurde das
Wort jedoch allmählich durch individua nomo ersetzt, was zusätzlich den
Vorteil hat, die Parallelität zu familia nomo deutlicher hervorzuheben.
- Die Bedeutung des Morphems kaz- war zunächst beschränkt auf einen
'Fall in der Deklination'. Es war ein rein grammatischer Begriff. Für die
meisten anderen Bedeutungen von 'Fall' wurde das Morphem okaz- benutzt.
(Okazo ist ein exaktes semantisches Equivalent zu dem russischen
sluchaj: wie dieses umschließt es die drei Bedeutungen 'Ereignis',
'Vorfall' und 'Möglichkeit', 'Gelegenheit'. Das russische sluchit'sja
'sich ereignen', 'geschehen' wird durch okazi wiedergegeben). In den
zwanziger Jahren wurde kaz- darüberhinaus im medizinischen Sinne, danach
auch in einem gesetzlichen Sinne gebraucht. Heute ist es nahezu das Äquivalent
zu dem französischen cas, englisch case (wie in den meisten
Fällen, nicht in dem Sinn von 'Schachtel'). In einer zweisprachigen
Rundschreiben der World Association for Cybernetics, Communication Sciences and
Systems Analysis (6) finden wir das Wort jeskaze 'wenn Sie zustimmen'
(jes 'ja', kaz- 'Fall', -e Morphem, dass den Umstand oder
die Art und Weise anzeigt, wörtlich also 'im Falle von ja').Es ist
wahrscheinlich, dass vor 1914 ein solches Wort nicht verstanden worden wäre. Man
hätte gesagt en okazo de konsento oder se vi konsentas, Sätze, die
noch immer Bestandteil des heutigen Esperanto sind.
- Strukturelle Entwicklung
Das gerade angeführte Beispiel illustriert eine der Tendenzen,
die in der Entwicklung von Esperanto beobachtet werden können: die zunehmende
Häufigkeit von -e Formen in Fällen, in denen früher präpositionale
Ausdrücke benutzt worden wären.
Abgesehen von wenigen Wörtern wie Präpositionen, Pronomen,
Konjunktionen und ähnlichem bestehen Esperanto-Wörter mindestens aus einer
Wurzel, die mit einer Endung versehen wird, welche ihre grammatische Funktion im
Satz angibt. Wird die Wurzel parol- mit der Endung -o benutzt,
handelt es sich um ein Hauptwort: parolo 'Sprache'; mit einem -a
wird sie zum Adjektiv: parola 'mündlich'; mit einem -e (mehr oder
weniger) zum Adverb: parole 'sprachlich, durch Sprache,
gesprochenerweise'; mit einem -i zu einem Verb im Infinitiv:
paroli 'sprechen'; mit -as, zu einem Verb in der Gegenwart:
parolas 'spreche, spricht...'; mit -is, zu einem Verb in der
Vergangenheit: parolis 'sprach, sprachen...', etc.
Eine Textanalyse enthüllt, dass die Endung -e mehr und
mehr in Gebrauch kam. Bei einer Reihe von Ausdrücken war dies bereits in den
Anfangszeiten der Sprache gebräuchlich - matene 'morgens', sabate
'samstags', komence 'anfangs' - aber es wurde, seltsam genug, nicht für
Ortsangaben benutzt, außer bei einigen wenigen Worten, die bereits Zamenhof
selbst gebrauchte, wie hejme 'zuhause' oder aliloke 'anderswo'.
Der Gebrauch von -e breitete sich allmählich auf andere Zeitangaben aus.
Ich habe über lange Zeit die Esperantopresse beobachtet und Notizen über den
mündlichen Gebrauch der Sprache gemacht, und mich gewundert, warum niemand
jemals sagte oder schrieb mi venos julie 'Ich werde im Juli kommen',
obwohl es allgemein gebräuchlich war zu sagen mi revenos somere 'Ich
werde im Sommer wiederkommen'; jeder sagte en julio. In den Dokumenten,
die ich ausgewertet habe, kam die e-Form eines Monatsnamens zum ersten
Mal 1983 vor. Seitdem habe ich sie in vielen Texten und Briefen gesehen und in
Gesprächen gehört. Nach meinem Gefühl verbreitet sich diese Form außergewöhnlich
schnell.
Es könnte eingewendet werden, dass es keine Entwicklung gegeben
hat, da solche Wörter seit 1887 korrekte Bildungen waren. Die Tatsache ist aber,
dass sie niemals benutzt wurden. "Korrekte" Sprache darf nicht mit wirklicher
Sprache verwechselt werden, welch letztere man nur durch das Studium von
Dokumenten und Feldbeobachtungen kennenlernen kann.
Was mit dem -e passierte, geschah gleichermaßen mit
anderen Endungen, wenn auch in etwas geringerem Ausmaß, soweit es sich um das
-a handelt. Bei verbalen Endungen hat es aber in der Tat ein Ausmaß
erreicht, das einen eigenen Abschnitt verdient (siehe 3 weiter unten).
Der Grund mag wohl sein, dass die Notwendigkeit, die Funktion durch eine Endung
zu kennzeichnen, Esperantowörter länger macht als ihre Äquivalente in Sprachen
mit vielen einsilbigen Wörtern, wie in den germanischen (hier besonders das
Englische) und slawischen Sprachfamilien. Ein erweiterter Gebrauch der Endungen
verbessert die Prägnanz ohne Verständnisprobleme hervorzurufen, und macht die
Sprache gleichzeitig phonetisch weniger monoton. Ein Esperanto-Anfänger wird den
Gedanken 'Ich werde mit dem Zug zu der Versammlung fahren" ausdrücken, indem er
Mi iros al la kongreso per trajno sagt, während ein reiferer Esperantist
sagen wird Trajne mi alkongresos oder Mi iros kongresen trajne.
Der Wahlspruch der Italienischen Esperanto Jugend Kie paski? Italuje! 'Wo
verbringt man die Osterferien? In Italien!' wäre Zamenhof vielleicht nicht
sofort klar gewesen. Eine solche Ausdrucksweise war vor dem zweiten Weltkrieg
nicht üblich, außer in der Dichtung.
Warum war tutmonde 'in der ganzen Welt' schon in den
Zwanzigerjahren ganz gebräuchlich, während vilaĝe 'im Dorf' erst jetzt in
Gebrauch zu kommen scheint? Dies ist nicht leicht zu verstehen. Die Tatsache,
dass solche Formen in den meisten Ausgangssprachen nicht existieren, ist keine
gültige Erklärung, da in Ausdrücken der Art und Weise die -e-Form schon
vor dem zweiten Weltkrieg häufiger anzutreffen war als präpositionale Ausdrücke:
krajone 'mit dem Bleistift', buse 'mit dem Bus', skribe
'schriftlich' haben in den Muttersprachen der meisten Esperantosprecher keine
solchen knappen Äquivalente. Wieso brauchten die Menschen so lange, um
Ein-Wort-Ausdrücke auch für Monate und Orte anzuwenden? Auf diese Frage gibt es
keine abschließende Antwort.
- Der Gebrauch nicht verbaler Morpheme als Verben
Der Gebrauch von im statistischen Sinne nicht verbalen
Morphemen mit einer Verb-Endung ist eines der vitalsten Merkmal des heutigen
Esperanto, das in den ersten Jahrzehnten der Sprache nicht angewandt wurde. Alle
Arten von Morphem werden verbal gebraucht, und obwohl es schwierig wäre, die
impliziten Regeln für ihren Gebrauch zu erklären, gibt es tatsächlich keine
Probleme beim Verstehen. Hier sind einige Beispiele aus meiner umfangreichen
Sammlung von Ausdrücken, die ich über diesen Punkt notiert oder aufgezeichnet
habe (-as zeigt an, dass der Begriff als Verb in der Gegenwart benutzt
wird, -i kennzeichnet den Infinitiv):
Kiel bluas la lago! 'Wie herrlich blau ist der
See!' (ein Slovake).
Li konstante ĉuas 'er stellt ständig Fragen' (ein
Brasilianer) (ĉu, gesprochen /tschu/, ist ein Fragewort entsprechend dem
französischen est-ce que, dem polnischen czy, dem jiddischen
tsu).
Bona profesoro ne profesoras 'Ein guter Professor
benimmt sich nicht wie ein Professsor' (ein Japaner, Literaturprofessor).
La UK-a partopreno de la samurba Sandesh Pradhar donis al la
anglalingva Indian Express la okazon artikoli pri Esperanto
'Die Tatsache, dass Sandesh Pradhar, der in der gleichen Stadt lebt, am
(Esperanto) Weltkongress teilnahm, ermöglichte es dem englischsprachigen
Indian Express, einen Artikel über Esperanto zu veröffentlichen'
("Informado - Ni legis en novembraj revuoj", Esperanto, 88, 1067
(2), February 95, p. 37).
Ili povas pseŭde aktivi 'Sie können so tun als
wären sie aktiv' (ein französisch sprechender Schweizer).
Unesko denove rezolucias favore al Esperanto 'Die
UNESCO nimmt erneut eine für Esperanto günstige Resolution an' (La Mondo
- eine in Peking erscheinende Zeitschrift - 1986, 8, p.2)
La fervojistoj kongresas'Die Eisenbahner halten
einen Kongress ab' (Heroldo de Esperanto, März 23, 1987, p.5)
- Veralterungen
Einige Wurzeln sind praktisch aus der Sprache verschwunden. Das
ist zum Beispiel der Fall bei gento 'ethnische Gemeinschaft', 'Familie'
(im weitesten Sinne), 'Rasse' (im engsten Sinne), ziemlich häufig in Texten von
Zamenhof und Arbeiten mancher anderer Autoren, wie denen von Privat, zu Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieser Ausdruck wurde ersetzt durch Wörter wie
popolo, etno, nacio oder raso, wobei diese aber verschiedene
Begriffsinhalte haben und ihr Bedeutungsfeld nicht identisch ist.
Ein anderes Beispiel einer Veralterung sind die -iĝadi
Formen wie in transformiĝadi 'eine allmähliche Umwandlung erfahren',
welche Zamenhof und die ersten Esperantoschreiber häufig benutzten. Sie gehören
nicht mehr zum gesprochenen Esperanto und kommen außerordentlich selten in
Texten vor. Natürlich, wenn jemand eine solche Form verwendet, wird er sofort
verstanden, der Gebrauch wird aber mit Sicherheit als irgendwie altertümlich
bemerkt. Die Form ist nicht aus dem theoretischen Sprachmodell verschwunden,
aber von einem statistischen Standpunkt gesehen gibt es sie nicht mehr.
- Zunahme der Anzahl von Semantemen
Eine sehr große Zahl von Begriffen werden heute durch Morpheme
ausgedrückt, die zu Zamenhofs Zeit nicht existierten. Hier sind drei Beispiele,
ausgewählt aus tausenden: teko 'Brieftasche', novelo
'Kurzgeschichte', bunta 'vielfarbig', 'bunt'. Wann kamen diese Wörter in
die Sprache? Wo? Durch welche Instanz? Die Antwort auf derartige Fragen würde
einen ziemlich großen Forschungsaufwand erfordern, und es kann gut sein, dass
überhaupt keine Antwort gefunden werden kann. Im Gegensatz zu einer
weitverbreiteten Ansicht, resultiert Esperanto aus einer kollektiven, anonymen,
weitgehend unbewußten Transformation von Zamenhofs Projekt durch täglichen
Gebrauch, wodurch sich zahlreiche Punkte bezüglich der Sprachentwicklung der
Aufklärung durch den Forscher entziehen.
Ein kroatisches Forscherteam hat einen Korpus, bestehend aus
Tonbändern, die an verschiedenen internationalen Schauplätzen unter
Esperantosprechern aufgenommen wurden, einer statistischen Computeranalyse
unterzogen: Kaffeehausgespräche, offizielle Zusammenkünfte, Familiendiskussionen
usw. Diese Untersuchung ergibt, das zahlreiche Morpheme, die im heutigen
gesprochenen Esperanto ziemlich gebräuchlich sind, nicht zu Zamenhofs Vokabular
gehörten (hiermit ist nicht die 1878'er Broschüre gemeint, sondern seine
sämtliche Schriften). Dies ist zum Beispiel der Fall bei eventual-
'möglich', dem 179.-häufigsten Wort in der Häufigkeitsliste, mit einer
Häufigkeit von 11/10.000, genauso wie bei ofert- 'anbieten',
'vorschlagen' und bei minimum-, die beide eine Häufigkeit von 2/10.000
ausweisen.
In einigen Fällen führt die Einführung von Neologismen zu
Neujustierungen in der Sprache. Als Computer aufkamen, wurden sie zuerst mit
Begriffen wie elektrona kalkulilo 'elektronischer Rechner' oder
informtraktilo 'ein Gerät zur Behandlung von Inforamtion' umschrieben,
aber daneben waren die Wörter komputoro und komputero schon bald
gebräuchlich. Nun ist jedoch die Nachsilbe -ilo so üblich für diese Art
von Begriffsbildungen, dass der durchschnittliche Esperantosprecher die
untereinander konkurrierenden Begriffe, von denen keiner wie der sichere Sieger
aussah, ganz spontan durch komputilo ersetzte. Das Wort komputilo
existierte in Wirklichkeit schon, zumindest in Wörterbüchern, mit der Bedeutung
'(Gas-, Wasser-) Zähler'. Heute gibt es in der Sprache offensichtlich Bedenken,
dieses Wort als Ausdruck für das letztere zu benutzen. Manche sagen
adiciilo, andere sumilo oder nombrilo, jemand schlug
sumadilo vor (-ad- ist ein Morphem, das die Dauer oder
Wiederholung betont: sumadilo bedeutet 'ein Gerät, das dauernd die Summe
berechnet'). Aber es gibt keinen Zweifel, dass komputilo bereits
definitiv sowohl komputoro wie auch komputero verdrängt hat.
Aufgrund der Sprachstruktur hat dies die Konsequenz, dass das Verb
komputi jetzt den Gebrauch eines Computers bedeutet.
Eine ähnliche Situation trat auf, als Radar gebräuchlich wurde.
Radaro (rad- 'Rad', -ar- 'eine zusammengefasste
Ansammlung', -o Gebrauch des Wortes als Hauptwort) bedeutete 'Radwerk'.
Da radaro im Sinne von 'Radar' mit der traditionellen Bedeutung
kollidierte, mußte eine Neuregelung stattfinden. Man nahm das Wort
radoaro, 'Radwerk', in das die Hauptwortendung -o eingefügt wurde
um die Abtrennung der Morpheme rad und ar zu unterstreichen.
Manche Leute lösen das Problem auf andere Weise: beim Sprechen fügen sie eine
kurze, aber hörbare Pause nach rad ein, und beim Schreiben benutzen sie
einen Bindestrich: rad-aro.
- Slang und VulgärausdrückeIch zeichnete das Wort krokodili mit
der Bedeutung 'eine nationale Sprache bei einer Gelegenheit verwenden, wenn man
Esperanto benutzen sollte' (zum Beispiel, wenn Leute in Anwesenheit eines
ausländischen Esperantisten zum Gebrauch ihrer Muttersprache übergehen, die er
nicht versteht) 1973 in Brasilien und 1977 in Japan auf. In beiden Fällen
erklärten mir meine Informanten, dass das Wort in ihren jeweiligen Ländern schon
seit sehr langer Zeit gebräuchlich sei. Ein anderer Informant, den ich in
Frankreich traf, erzählte mir, dass er es zum ersten Mal 1950 beim
Esperanto-Weltjugendkongress in Konstanz, Deutschland, gehört habe. Niemand
konnte mir den Ursprung dieses Wortes erklären oder etwas Licht auf die mentalen
Prozesse werfen, die zu seiner Entstehung geführt haben.
Unter den Wörtern, bei denen Ort und Zeit ihrer Einführung in
die Sprache unbekannt sind, müssen Vulgärausdrücke besonders erwähnt werden, wie
pisi 'urinieren', fiki 'Geschlechtsverkehr haben mit', kaco
(Ausspr.: /katso/) 'Penis' und ähnliche, die, wie leicht festgestellt werden
kann, von jungen Esperantosprechern in Asien und Amerika genauso verstanden
werden wie in Europa, sowohl im Westen wie im Osten.
- Autonomer Gebrauch ehemaliger Präfixe und Suffixe
Auf Seite 91 der 1987'er Mai-Ausgabe des Magazins
Esperanto kann man den Titel Endas racia diskutado 'eine
vernünftige Diskussion ist nötig' lesen. Das Wort endas ist die Verbform
des Suffixes -end- 'etwas, was erforderlich ist', meistens mit der
Adjektivendung -a gebraucht: tajpenda raporto 'ein Bericht, der
getippt werden muss'. Dieser Satz illustriert die gegenwärtige Neigung, Affixe
als richtiggehende Wörter zu gebrauchen. Heutzutage ist es fast unmöglich,
Esperantotexte zu lesen, ohne auf solche Wörter wie emas 'hat einen Hang
zu', ulo 'ein Individuum', igi 'machen', eta 'klein', usw.
zu stossen. Durch Hinzufügen der Endung, die ihre Funktion bestimmt, sind dies
Morpheme, die zu Zamenhofs Zeit wirkliche Suffixe waren, das heißt, immer an
einen anderen Bedeutungsträger gebunden waren. Die Struktur der Sprache,
charakterisiert durch die absolute Unveränderlichkeit der Morpheme, wie im
Chinesischen, und durch die unbeschränkten Möglichkeiten, sie zu kombinieren,
mußte dazu ermutigen, sie als selbstständige Einheiten zu benutzen. Dies
entwickelte sich im wesentlichen seit den Zwanzigerjahren, und der Trend hält
ungebrochen weiterhin an. Heute merkt ein durchschnittlicher Esperantosprecher
nicht einmal mehr, dass ein Satz wie la estraro ree kaj ree emas igi tiun
etan aĵon tro grava 'wieder und wieder neigt der Vorstand dazu, diese kleine
Sache zu wichtig zu nehmen', in dem die meisten Elemente zur Jahrhundertwerde
(also um 1900) nur Affixe waren, im wesentlichen aus einem bestimmten Morphemtyp
zusammengesetzt ist (nämlich -estr- 'Leiter', 'Chef'; -ar-
'Gruppe', re- 'wieder', -em- 'neigen zu', -ig- 'machen',
-aĵ- 'Ding'). Da Präpositionen als Präfixe benutzt werden können
(aliri 'annähern' < al 'nach, zu', iri 'gehen'), ist
dies vielleicht die geeignete Stelle, um ähnliche Verwendung von Präpositionen
aufzuzeichnen, die sich im wesentlichen in den letzten dreißig Jahren
entwickelte. In Fällen, in denen vor dem zweiten Weltkrieg jedermann
interne 'innen' gesagt hätte, sagen manche Leute heute ene (
en 'in'), auch in Bezug auf Zeit: ene de unu semajno 'in einer
Woche'.
- Unkorrekte Formen, die die zugrundeliegenden Aktionen struktureller Muster
offenbaren
Beim Aufzeichnen von Mustern spontaner Esperanto-Sprache fielen
mir viele Abweichungen vom theoretischen Standard auf, derart, dass hergebrachte
Esperantomuster bei Gelegenheiten angewandt wurden, in denen dies in Bezug auf
Grammatik und Wörterbücher nicht korrekt war. So sagte ein Universitätsprofessor
einmal fakultejo 'ein Universitätsbereich, Fakultät', wohingegen der
Begriff im Wörterbuch fakultato lautet und es kein Morphem fakult-
gibt, aus dem der Begriff hätte gebildet werden können (-ejo ist ein
Morphem, das zur Bildung von Wörtern für Orte und Institutionen benutzt wird).
Ganz ähnlich bezeichnet das offizielle Programm des Esperanto-Weltkongresses,
der 1986 in Peking, China, abgehalten wurde, das Chinesische Theater, in dem
eine Anzahl von Esperantoveranstaltungen stattfanden, als Ĉina Teatrejo,
obwohl das Standardword teatro ohne Suffix ist. Ein anderes Beispiel ist
medikaĵo für medikamento; das Morphem medik- gibt es
offiziell nicht.
Einen etwas anders gelagerten Fall (da die Form "korrekt" ist)
stellt tajpilo 'Schreibmaschine' dar, was ich in verschiedenen Ländern
oft gehört habe. Früher wurde 'tippen' wiedergegeben durch maŝinskribi
(maŝin 'Maschine', skribi 'schreiben'), aber irgendwer sagte
irgendwann tajpi und das bequeme Wort wurde überall in der
Esperanto-Diaspora rasch angenommen, wie es oft geschieht, wenn ein Begriff mit
dem Geist der Sprache harmoniert. Aus tajpi leitete man tajpilo
ab, aber das Wort findet sich in keinem Wörterbuch. Ich habe es nie in
geschriebener Form gesehen, und ich vermute, dass es nur in gesprochenem
Esperanto vorkommt. (Dies bleibt eine Vermutung - das Wort
kommt sehr wohl im Wörterbuch vor - Anm. des Red.)
Ähnlich wird im gesprochenen Esperanto oft das Wort
surbendigilo (sur 'auf', bend- 'Band', -ig-
'bewirken, dass es ist', ilo 'Instrument', 'Apparat', 'Gerät' >
surbendigilo 'ein Gerät, das bewirkt, dass etwas auf einem Band ist',
'ein Tonbandgerät') oder sonbenda maŝino, wörtlich 'Ton-Band-Maschine',
während der offizielle Begriff magnetofono lautet.
- Modifizierungen von Formen
Viele Formen sind neben bereits existierenden aufgetaucht, im
allgemeinen, um ein Wort zu verkürzen, das eine längere Form besitzt, als die
Stimmung der Sprache rechtfertigte.
Das offizielle Wort aŭtentika 'authentisch' ist
heutzutage seltener als aŭtenta, und das Zamenhof'sche komentarii
'kommentieren' wird sehr häufig durch komenti ersetzt. Die offiziell
korrekte Form spontanea 'spontan' und die modernere spontana, die
in Wörterbüchern mit der Anmerkung "Neologismus" verzeichnet wird, scheinen im
gewöhnlichen Gebrauch gleich häufig aufzutreten.
Die Tendenz, Wurzeln zu kürzen, die auf einen Vokal +
-ci- (entsprechend zu Lateinischen Wörtern, die auf -tio enden)
muß unter dieser Überschrift ebenso angemerkt werden. Während die offizielle
Übersetzung von 'Pollution, Verunreinigung' polucio ist, benutzen die
meisten Esperantosprecher poluo, und polui 'verunreinigen' ist
definitiv häufiger als die Wörterbuchform polucii. In dieser Hinsicht
tritt eine semantische Unterscheidung auf: poluo bedeutet 'Verschmutzung'
der Umwelt, während die ältere Form polucio noch im Sinne von 'spontaner
Samenerguß' benutzt wird.
Civilizo erscheint oft im einem Sinne, in dem
civilizacio theoretisch bevorzugt werden sollte. Nach den Wörterbüchern
sollte civilizo 'den Vorgang der Zivilisierung' und civilizacio
'eine so oder so geartete Kultur', 'eine bestehende Zivilisation', bedeuten,
aber diese Unterscheidung wird in der Praxis nicht beachtet. Kürzlich hörte ich
zweimal situo in Fällen, in denen theoretisch situacio
erforderlich war: en tia situo 'in so einer Situation' (gesprochen von
einem Franzosen), und la nuna politika situo 'die gegenwärtige politische
Situation' (ein Argentinier). Keiner der Sprecher, die beide fließend sprachen,
schienen sich dessen bewußt zu sein, dass situo in Wirklichkeit 'der Ort,
an dem jemand oder etwas sich befindet' bedeutet. Da in beiden Muttersprachen
das korrespondierende Wort dichter an der offiziellen Esperantoform liegt, ist
dies ein Fall, in dem die allgemeinen Strukturen der interkulturellen Sprache
einen stärkeren Einfluß bewiesen als die jeweilige Muttersprache.
1999 notierte ich erstmals die Wörter referi im Sinne
von 'sich beziehen auf' und diferi 'unterscheiden', 'unterschiedlich
sein'. Nach dem offiziellen Wörterbuchesperanto hätten die Wörter
referenci und diferenci sein müssen. Beide Formen, gebraucht von
drei verschiedenen Personen, kamen in e-mails oder Beiträgen in
Internet-Diskussionsgruppen vor.
- Neue zusammengesetzte Wörter
Morpheme, die bis zum Anfang der Sprache zurückdatiert werden
können, können zu neuen Wörtern mit präzisen Bedeutungen zusammengesetzt werden.
Dies ist zum Beispiel der Fall bei petveturi 'per Anhalter fahren', 'mit
dem Daumen reisen', aus pet- 'bitten' und veturi 'in einem
Fahrzeug fahren'. Andere Beispiele sind veltabulo 'Surfbrett'
(vel- 'segeln', tabulo 'Brett') und promenskii
'Skilanglauf' (promen- 'spazieren', skii 'skifahren').
Dies sind etablierte Wörter, die sich von einem Teil der
Diaspora zum anderen rasch ausbreiteten. Aber viele neue zusammengesetzte Wörter
werden, der Eingebung des Augenblicks folgend, gemacht, zum Beispiel: ili
buŝplenas pri homrajtoj, was ich aus dem Mund eines holländischen
Teilnehmers an einem Treffen in Zagreb, Kroatien, hörte, 'ihr Mund ist voll mit
Rederei über Menschenrechte', 'sie geben ständig Lippenbekenntnisse über die
Menschenrechte ab', (buŝ, 'Mund', plen- 'voll', pri 'über',
hom-rajtoj, 'Menschenrechte'; rajt- 'Recht' wird 'reit'
ausgesprochen).
- Das Suffix -umi
Dieses seltsame Suffix, das im Gegensatz zu allen anderen keine
präzise Bedeutung besitzt, wird benutzt, um Wörter zu bilden, die häufig sehr
ausdrucksvoll und schwierig zu übersetzen sind. Zamenhof führte es ein, um
Probleme zu lösen, für die er keine andere Lösung fand. Er benutzte es zum
Beispiel um plenumi 'erfüllen (seine Pflichten)' aus plen- 'voll',
abzuleiten, und das Verb so von der Verbform plenigi 'füllen' zu
unterscheiden, wobei die metaphorische Verbindung mit "voll, Fülle" erhalten
bleibt, was beim Merken des Wortes hilft.
In quantitativer Hinsicht ist dieses Suffix nicht sehr
produktiv, aber wohl in qualitativer Hinsicht. Obwohl es nicht viele Wörtern
hervorbringt, haben diejenigen, die es erzeugt, eine ganz besondere Würze,
wodurch sie den Mitgliedern der Esperantogemeinschaft besonders gut gefallen.
Kafumi (kaf- 'Kaffee') zu sagen, ein ziemlich häufiges Wort auf
Sitzungen und Konferenzen, bedeutet etwas völlig anderes als 'eine Tasse Kaffee
trinken'. Es beschwört eine Atmosphäre der Freundschaft, der Entspannung, des
Wohlbefindens herauf, die anderen Ausdrücken völlig fehlt. Wenn solche
Nebenbedeutungen fehlen, wird man einfach trinki kafon oder
kaftrinki sagen. Kafi wurde auch gehört, aber die Atmosphäre ist
weniger freundlich, weniger warm als die von kafumi.
Butikumi (butik- 'Laden, Geschäft') bedeutet
nicht nur 'einkaufen gehen', es umfaßt darüber hinaus den Gedanken an Genuss, an
einen Spaziergang durch ein Geschäftsviertel nur zum Vergnügen, der dem Ausdruck
'einkaufengehen' einfach fehlt.
Mi opinias ke Esperanto estas tiel grava fenomeno ke ne
indas nur klubumi 'Ich glaube, dass Esperanto so ein wichtiges Phänomen ist,
dass es zu schade ist, um nur für Klubtreffen zu dienen', ist ein Satz, der in
einem Beitrag zu einer Esperanto-Diskussionsgruppe stand, den eine junge
finnische Dame verfaßt hatte. Aber die obige Übersetzung ist nicht ganz exakt.
Klubumi, von klub-, 'ein Verein', ist ein zu vager Begriff als
dass er sich übersetzen ließe, ist aber reich an Atmosphäre.
Und wie könnte man den folgenden Satz übersetzen, gefunden in
einem Brief eines Pariser Esperantisten: Mi venas al kongresoj nur por
amikumi 'Ich komme zu Kongressen nur um freundschaftliche Beziehungen zu
genießen, Freunde zu treffen, Freundschaft zu erfahren'? Es ist schwierig zu
erklären, wieso solche Wörter keine Verständigungsprobleme hervorrufen, aber
dies ist eine verifizierbare Tatsache. Sie werden auf die gleiche Weise überall
in der Welt gefühlt.
- Das Präfix mal- in gesprochenem Esperanto
Es gibt da in Esperanto ein Präfix mal-, das Gegensätze
bildet: feliĉa 'glücklich', malfeliĉa 'unglücklich',
bona 'gut', malbona 'schlecht'. Wie andere Affixe kann es
unabhängig benutzt werden, vorausgesetzt dass es mit einer Endung versehen wird,
die seine Funktion definiert: male 'im Gegenteil', malo 'das
Gegenteil', mala 'gegenteilig'. Feldstudien enthüllen, dass dieses
Präfix in gesprochenem Esperanto außerordentlich produktiv ist. Ziemlich oft
entsteht eine humorvolle Nebenbedeutung, aber es wird auch angetroffen, wenn der
Sprecher offensichtlich das richtige Wort nicht findet. Hier sind einige
Beispiele:
Tio estas tro malpoezia 'Das ist zu prosaisch' (ein
italienischsprachiger Schweizer).
Kiam okazos la malinaŭguro? 'Wann findet die
Abschlußsitzung statt?' (ein britischer Bürger).
Oni hodiaŭ malfestas la sovetiigon de Estonio 'Heute
beklagen die Menschen die Sowjetisierung von Estland' (ein Este, in Tallinn, 20.
Juli 1987, als Estland noch Sowjetrepublik war).
Mi volus malmensoge klarigi al la lernantoj 'Ich wü,rde
es den Studenten ehrlich erklären, (= das Gegenteil von lügen)' (ein
Engländer).
Mia malgranda malĉemara landeto Ĉeĥio 'Mein kleines
landumschlossenes Land, die Tschechische Republik' (eine Tscheche, an die
Internet-Diskussionsgruppe BJA; ĉe 'nahe', 'bei', mar- 'Meer',
ĉe-mar-a 'nahe am Meer', mal-ĉe-mar-a , wörtlich 'das Gegenteil
von nahe am Meer sein').
Nek tro nek maltro 'Weder zuviel noch zu wenig' (ein
Amerikaner; dies entwickelt sich heutzutage zu einem allgemein gebräuchlichen
Ausdruck).
Die Vitalität dieses Präfixes in gesprochenem Esperanto ist
umso bemerkenswerter, als Schreiber in der Regel ein Vorurteil dagegen zu haben
scheinen. Viele Neologismen wurden in der Literatur vorgeschlagen, um Wörter,
die mit mal- gebildet werden, zu ersetzen, aber die meisten davon sind
nicht Teil des lebendigen, gesprochenen Esperanto geworden und behalten eine Art
künstlichen Beigeschmack. Trista 'traurig' ist eines der wenigen, das in
der gesprochenen Sprache wirklich Wurzeln zu schlagen scheint, obwohl die
traditionellen Synonyme malĝoja, malgaja, senĝoja, sengaja noch sehr viel
gebraucht werden.
- Grammatik
Anscheinend hat es auf dem Gebiet der Grammatik nur wenige
Änderungen gegeben. Die Grundregeln werden von allen respektiert - wenn auch
nicht angewandt. Die normale Reaktion eines Esperantosprechers, der feststellt,
dass er gerade die Objektendung -n vergessen hat, ist die, sich selbst
sofort zu korrigieren.
Die vielleicht bedeutendsten Abweichungen von Zamenhofs
Grammatikgebrauch sind heute:
- Der Gebrauch von -i Formen (Infintiven) hinter sen 'ohne'
Sen rimarki ĝin 'ohne es zu bemerken' ist mindestens so häufig wie die
Zamenhofsche partizipiale Konstruktion ne rimarkante ĝin, wörtlich 'es
nicht bemerkend'.
- Der Gebrauch einer -a Form (Adjektiv) hinter aspekti 'aussehen
wie'. Zamenhof benutzte immer eine -e Form (Adverb): li aspektas
june 'er sieht jung aus'. Heute sind beides, die -a und die -e
Form, akzeptierte Alternativen: li aspektas juna schockiert den
durchschnittlichen Esperantosprecher nicht.
- Der Gebrauch von far als Präposition zur Kennzeichnung des Handelnden
bei Passivformen, besonders hinter einer -o Endung: la mortigo de
Palme far nekonato 'die Tötung von Palme durch einen Unbekannten'. Die
Standardform wäre la mortigo de Palme fare de nekonato. Diese
Standardform wurde in den zwanziger Jahren vorgeschlagen von Grosjean-Maupin,
einem Schweizer Esperanto-Lexikologen, und verbreitete sich sofort. Zamenhofs
Sprache besaß kein Äquivalent; er hätte diesen Gedanken anders formuliert. Zwei
Jahrzehnte lang hätten viele Leute flanke de gesagt, mehr oder weniger
'von seiten', 'seitens', aber da dieser Ausdruck von der Wurzel flank-
'Seite' abgeleitet ist, bedeutet er auch 'neben' und könnte doppeldeutig sein.
Es scheint, dass der Gebrauch von far als Präposition immer mehr aus der
Mode kommt und Boden an das traditionellere fare de verliert. Es wird in
Gesprächen oder Vorträgen selten gehört. Es kommt jedoch ziemlich häufig in der
Zeitschrift Monato vor, aber nicht in anderen Zeitschriften.
- Das sporadische Auftreten von Verben, deren erstes Element ein Hauptwort
ist, das in Wahrheit das Objekt einer Handlung ist. Dies ist die Erweiterung
eines Gebrauchs, der seit den Anfängen der Sprache existierte, aber auf wenige
Wörter beschränkt war: pardonpeti 'um Vergebung bittten',
partopreni 'teilnehmen' oder (obwohl die grammatische Analyse etwas
anderes ergäbe) militservi 'seinen Wehrdienst leisten'. Es besteht ein
feiner Unterschied zwischen diesen kompakten Objekt-Verb-Wörtern und dem aus
zwei Wörtern bestehenden Ausdruck Verb + Objekt. Die ersten sind kompakter,
nicht nur in der Form, sondern auch sozusagen in der Bedeutung, obwohl dies
schwer zu erklären ist; man muß es fühlen. Ein Romanschriftsteller, der, nachdem
er eine seiner Personen etwas sagen ließ, 'er sagte' durch li frazfinis
ausdrückt, wörtlich 'er satzbeendete', 'er beendete seinen Satz' sagt etwas
irgendwie anderes als was er durch das Schreiben von li finis la frazon.
ausdrücken könnte. Oder auch, wenn ein portugisischer Teilnehmer an der
Internet-Diskussionsgruppe Denask erklärt, wie seine kleine Tochter Esperanto
benutzt, indem er sagt Ne supozu ke Sara lingvokreas ĉiam lerte kaj
virtuoze 'Denk nicht, dass Sara in ihren Sprachschöpfungen immer Erfahrung
und Virtuosität zeigt', bedeutet das Wort lingvokreas mehr als mit
kreas lingvon 'kreiert eine Sprache' ausgedrückt werden könnte. Es
bezieht sich auf die spontane linguistische Kreativität eines Kindes, und dies
wird von den Benutzern von Esperanto gefühlt, wenn es auch schwierig ist, zu
bestimmen, wie und warum.
- Spielen mit Wörtern
Obwohl dies kein linguistisches Merkmal ist, mag die Vorliebe
von Esperantosprechern, Ausdrücke zu benutzen, die sie eher wegen ihrer
komischen oder ausdrucksstarken Stimmung als zur Präzisierung einer Aussage
wählen, einer Erwähnung wert sein. Diese werden oft aus Wörtern mit ähnlichen
phonetischen Strukturen gebildet: li rigardis lin atente atende 'er sah
ihn aufmerksam und erwartungsvoll an'. Oder, am Ende eines Briefes, in dem der
Schreiber erklärte, dass er in Eile antwortete, da er nur wenig Zeit zur
Verfügung hatte: kore, kure via wörtlich 'herzlich und rennend Dein'
(kur- bedeutet 'rennen'). Ein ähnlicher Satz in einem Brief, den ich
erhielt, war Korege kaj kolege vin salutas 'herzlichst und kollegial
grüßt Dich...' In der Internet-Chat-Gruppe Denask notierte ich folgenden
Ausdruck eines spanischen Mitglieds: Mi pretas kolekti kaj kokteli la
respondojn 'Ich bin bereit, die Antworten zu sammeln und einen Cocktail
daraus zu machen'.
- Schlußfolgerung
Die Veränderungen, die der Alltagsgebrauch in Esperanto bewirkt
hat und weiterhin erzeugt sind unterschiedlich, zeigen aber hauptsächlich zwei
Aspekte: Anleihen (so wie tajpi 'tippen', das parallel zu dem
konventionellen Wort maŝinskribi benutzt wird); und Entwicklung latenter
Ressourcen, wie der autonome Gebrauch von Affixen, und das immer mehr zunehmende
Anzapfen des großen Potentials der Vokalendungen. Die Grammatik einschließlich
der Syntax blieb weitestgehend unberührt. Semantische Veränderungen sind
erkennbar, aber nicht sehr umfangreich. Was die phonetische Evolution betrifft,
sind wir kaum in der Lage, diese auszuwerten. Tonaufzeichnungen scheinen zu
enthüllen, dass die nationalen Akzente heutzutage weniger deutlich sind als sie
vor dreißig Jahren waren, und die einzige Aufnahme von Zamenhofs Stimme zeigt
einen so starken russischen Akzent - er spricht estas wie /jestas/ aus -
dass er heutzutage sofort als Anfänger eingestuft würde (was er ja im Grunde
auch war).
Es ist interessant, dass amtliche Entscheidungen sehr oft nicht
ernst genommen werden. So hat sich die Computer Section der ISAE, (International
Association of Esperanto-speaking Scientists, Internationale Vereinigung
esperantosprechender Wissenschaftler) offiziell auf die Neologismen
komputero 'Computer' und dateno 'Daten' geeinigt und diese
empfohlen. Aber sie hielten nicht lange. Heute benutzen die meisten
Computerfachleute - selbst die oben erwähnte Abteilung der ISAE -
komputilo und die ältere Form datumo.
Die meisten willkürlichen Entscheidungen dieser Art hatten
dasselbe Schicksal. Obwohl das führende erläuternde Esperantowörterbuch,
Plena Ilustrita Vortaro, ein beträchtliches Ansehen genießt, wurden recht
viele darin empfohlene Formen niemals wirklich akzeptiert. Während es zum
Beispiel televizio empfiehlt, sagt jeder doch televido. Es
scheint, dass die Esperantosprecher ein Gefühl dafür entwickelt haben, was in
die Sprache aufgenommen werden kann und was nicht. Sie haben ein feines
Empfinden dafür, wie sie sich entwickeln sollte, selbst wenn es keine
Möglichkeit gibt, dies zu definieren.
Der Einfluß des Substrates war in den ersten Jahrzehnten sehr
groß, dies hat sich aber geändert. Es scheint, dass heute der hauptsächliche
Faktor der Evolution aus der Kraft der internen Strukturen kommt, die mehr und
mehr Anwendungen findet, von denen man am Anfang nicht einmal träumte. Ein
Gefühl des Staunens über die Tatsache, dass eine originelle Form, gebildet aus
der Eingebung des Augenblicks und weit entfernt von Strukturen der Muttersprache
des Sprechers, augenblicklich von Menschen aus sehr fernen Kulturen verstanden
wird, stimuliert die Produktion, was oft sehr humorvoll ist.
Aber welcher Art auch die Änderungen sind, die Tatsache, dass
sie dauernd stattfinden, wie von jedermann, der Felduntersuchungen vornimmt,
leicht erkannt werden kann, ist der Beweis, dass Esperanto eine lebende Sprache
ist. Dass sich eine lebende und wahrhaft lebendige Sprache entwickelt auf der
Basis einer dünnen Broschüre, die von einem jungen Mann auf eigene Kosten an
einem weit entfernten Ort vor einem Jahrhundert herausgegeben wurde, ist eine
erstaunliche Tatsache, die von Seiten der Soziolinguisten mehr Aufmerksamkeit
verdient.
____________ ANMERKUNGEN
1. Beispiele in Emile Grosjean-Maupin, ed., Plena Vortaro
de Esperanto (Paris: Sennacieca Asocio Tutmonda, 1953), p. 30.
2. Gaston Waringhien, ed., Plena Ilustrita Vortaro de
Esperanto (Paris: Sennacieca Asocio Tutmonda, 1970), p. 36.
3. Gaston Waringhien, Grand Dictionnaire espéranto-français (Paris: SAT-Amikaro, 1976), p. 29.
4. L.L. Zamenhof, Fundamento de Esperanto (Paris:
Hachette, 1905), p. 160.
5. On this term, siehe Claude Piron "Who are the speakers of
Esperanto?" in Klaus Schubert, ed., Interlinguistics (Berlin, New
York: Mouton de Gruyter, 1989), pp. 157-159.
6. Paderborner Novembertreffen 1984 / Paderborna novembra
renikontigho 1984 (Paderborn: Tutmonda Asocio por Kibernetiko, Informadiko kaj Sistemiko, October 8, 1984), p. 1.
http://www.aliaflanko.de/deutsch/text/evold.html
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